Blog 20-20-2 oder die Illusion, dass Aufklärung genügt, um Myopie bei Kindern hinauszuzögern
Kurzsichtigkeit (Myopie) bei Kindern entsteht durch übermäßiges Augenlängenwachstum. Sicher ist, dass die Seherfahrung eine sehr wichtige Rolle spielt: zu viel und zu lang andauernde Naharbeit verbunden mit zu wenig Aufenthalt im Freien regen das Längenwachstum an. Daraus entstand die Idee, das Verhalten und somit auch die Seherfahrung von Kindern durch Aufklärung zu verändern, um das Augenwachstum zu beeinflussen. Doch wie realistisch ist die Annahme, dass Aufklärung genügt? Eine Studie aus China ging dieser Frage nach.1
Die 20-20-2-Regel
20 Minuten Naharbeit oder lesen und danach
20 Sekunden in die Ferne schauen
2 Stunden pro Tag im Freien verbringen

Drei Fragen, die wir uns stellen müssen
Kann man mit Verhaltensänderung die Myopie bei Kindern hinauszögern?
Was braucht es, damit diese Veränderung gelingt – und bleibt?
Ist Prävention durch Verhalten nachhaltig – oder nur eine schöne Idee?
Diese neue Studie aus China wollte es wissen. Sie brachte zusammen, was selten zusammen gedacht wird: Technologie, Pädagogik und Prävention. Ein ambitionierter Versuch – mit überraschendem Ausgang?
413 Grundschulkinder. Drei Gruppen. Ein Jahr.
Alle trugen einen kleinen Sensor am Kopf. Dieser erfasste, wie lange und wie nah die Kinder lasen, wie gut das Licht war, ob der Kopf schief lag. Bei ungünstigem Verhalten vibrierte das Gerät – eine leise, direkte Rückmeldung.
Doch das allein war nicht alles:
Gruppe A erhielt zusätzlich wöchentliches Feedback: Elterngespräche, kleine Belohnungen, ein pädagogisches Rahmenprogramm.
Gruppe B bekam nur das vibrierende Gerät.
Gruppe C (Kontrollgruppe) erhielt keine Intervention.
Die Idee: Wenn man das Sehverhalten verändert, kann man auch das Augenwachstum beeinflussen.
Und dann? Das zweite Jahr
Im zweiten Jahr war Schluss. Keine Erinnerung. Kein Feedback. Kein Lob. Kein Gerät. Nur noch das Kind – und der Alltag.
Und ja, das Verhalten – es kippte zurück. Ohne Rückmeldung veränderten sich Leseabstand, Lichtverhalten und Kopfhaltung wieder schrittweise in Richtung der alten Muster.
Das Erstaunliche war: Ein Rebound-Effekt im Sinne einer übermäßigen Beschleunigung des Augenwachstums blieb aus. Aber ebenso deutlich wurde: Die Unterschiede zwischen den Gruppen verschwanden.
Sowohl bei der Myopieinzidenz (9,3 % in der ehemaligen Feedbackgruppe vs. 12,0 % in der Ex-Kontrollgruppe) als auch bei der Zunahme der axialen Länge (+0,29 mm vs. +0,32 mm) waren die Werte im zweiten Jahr nicht mehr signifikant verschieden.
Der strukturelle Vorteil des ersten Jahres blieb erhalten – aber die Wirkung der Intervention verpuffte, sobald sie endete.
Das Fazit: Die Technik hat geholfen – aber nur, solange sie präsent war.
Was heißt das?
Diese Studie ist auf mehreren Ebenen aufschlussreich.
Sie zeigt:
Verhalten kann verändert werden.
Augen reagieren darauf.
Aber die Studie zeigt auch: Wenn selbst ein Jahr mit Biofeedback, Belohnung und Begleitung nicht reicht, um Verhalten dauerhaft zu verändern – wer glaubt dann noch, dass ein einziger Satz zur 20-20-2-Regel in der Sprechstunde irgendetwas bewirkt?
Prof. Dr. Hakan Kaymak