
Blog Zur Zulassung von atropinhaltigen Augentropfen gegen Kurzsichtigkeit bei Kindern
– Ein Kommentar von Prof. Dr. Hakan Kaymak –
Mit der Zulassung von Ryjuena – Augentropfen mit 0,01 % Atropin – zur Myopiebehandlung bei Kindern durch die Europäische Arzneimittelagentur EMA ist ein bemerkenswerter Schritt getan. Man darf der forschenden Industrie, den beteiligten Prüfzentren und auch der EMA gratulieren – denn dieser Schritt markiert unzweifelhaft einen regulatorischen Meilenstein. Doch was auf den ersten Blick wie ein Fortschritt erscheint, zwingt uns – gerade aus medizinethischer Sicht – zu einer tiefer gehenden Reflexion.

Was bedeutet die Zulassung für Augenärzte?
Die Zulassung macht unser Handeln nicht einfacher. Sie bringt uns nicht die ersehnte Klarheit, sondern stellt uns vor neue, ungelöste Fragen. Denn: Bisher sind keine Studienergebnisse öffentlich zugänglich, die den Zulassungsentscheid nachvollziehbar machen würden. Wir wissen aus der Literatur, dass der Nutzen von Atropin 0,01 % in Bezug auf die Reduktion des axialen Längenwachstums bislang nicht eindeutig belegt ist. Die LAMP-Studie zeigt, dass gerade höhere Konzentrationen (0,05 %) bessere Effekte zeigen – mit nur gering erhöhten Nebenwirkungen.1
Wer profitiert und was verändert das zugelassene Präparat in der gelebten klinischen Praxis?
Wer also profitiert? Eltern? Kinder? Ärztinnen und Ärzte? Oder primär die, die ein Produkt in Verkehr bringen? Wir wissen es nicht. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob es jetzt ein zugelassenes Präparat gibt, sondern was es in der gelebten klinischen Praxis wirklich verändert. Welche Kinder sollen es bekommen? Welche nicht? Wie lange? Mit welchem Ziel? Die Therapieziele sind weiterhin nicht definiert. Wir wissen nicht einmal, was genau wir verhindern wollen – außer „mehr Myopie“.
Die Therapieziele sind weiterhin nicht definiert. Wir wissen nicht einmal, was genau wir verhindern wollen – außer „mehr Myopie“.
Die Verantwortung für das Kind bleibt
Diese Zulassung ersetzt keine Diskussion über Sinn und Zweck ärztlichen Handelns. Sie ersetzt nicht die Verantwortung, individuelle Indikationen zu stellen und ehrlich zu kommunizieren, was bekannt ist – und was nicht. Und sie ersetzt schon gar nicht die Frage, ob eine Therapie mit schwacher Evidenz eine bessere Medizin macht – oder nur eine standardisiertere.
Was bleibt, ist die Verantwortung aller Beteiligten:
der Ärzteschaft, in der Auswahl, Aufklärung und Begleitung,
der Eltern, die Entscheidungen für ihre Kinder treffen
und nicht zuletzt des Unternehmens, das dieses Medikament in Verkehr bringt.
Santen steht nun in der Verantwortung, den wissenschaftlichen Diskurs zu ermöglichen: durch offene Daten, klare Kommunikation, und durch die Bereitschaft, auf Fragen nicht mit Marketing, sondern mit Dialog zu antworten. Denn was wir jetzt brauchen, ist nicht nur ein einfacher Therapiealgorithmus, sondern ein Miteinander in der Kommunikation – über Nutzen, Grenzen, Alternativen und über das, was uns als heilkundlich Handelnde letztlich antreibt: Verantwortung für das Kind.
Diese Verantwortung liegt mir als Vater meiner Tochter Leyla und als Augenarzt sehr am Herzen. Unsere Erfahrungen mit Atropin haben wir in dem Quarks & Co. Video dokumentiert, das Sie in der ARD-Mediathek anschauen können.

Leyla und das Atropin